Leserbrief von Alia Hübsch-Chaudhry

Liebe Redaktion,
ich habe den Artikel von Frau Melanie Reinsch mit dem Titel
„Kopftuchverbot für minderjährige Mädchen gefordert“ vom 23.08.2018
mit Interesse gelesen. Darin wird über die Forderung der Organisation
„Terre des Femmes“ berichtet, das Kopftuch für Mädchen unter 18 Jahren
per Gesetz verbieten zu lassen. Zu diesem Zweck wurde demnach eine
Online-Petition gestartet.
Ich selbst bin gebürtige Muslima und halte die Forderung von „Terre
des Femmes“ für äußerst fragwürdig. Ich begann im Alter von 11 Jahren
das Kopftuch zu tragen, aus freien Stücken, aus der Liebe zu Gott und
als Bestandteil meiner religiösen Identität. Niemand zwang mich dazu,
ganz im Gegenteil. Ich wollte meinen Glauben selbst erproben und für
mich definieren. Das Kopftuch verhalf mir dazu. Genauso wie für viele
andere Kinder die Konfirmation oder die Bar-Mitzwa wesentliche Mittel
sind, um den eigenen Glauben zu erproben und mehr über sich und seine
Beziehung zu Gott zu erfahren, verhielt es sich bei mir mit dem
Kopftuchtragen. Das Kopftuchtragen stärkte mein Selbstbewusstsein,
indem es mir dazu verhalf, trotz vorhandener gängiger Schönheitsideale
und Modetrends, die zu einem hypersexualisierten Frauenbild führen
können, offen für das einzutreten und das nach außen sichtbar werden
zu lassen, was mich im tiefsten Herzen bewegte.
Sicherlich mag es Fälle geben, in denen Kinder oder Jugendliche
tatsächlich dazu gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen. Wie Frau
Reinsch jedoch in ihrem Artikel schreibt, gibt es keine verlässlichen
Zahlen dazu, geschweige denn zur Anzahl der kopftuchtragenden Kinder
und Jugendlichen in Deutschland überhaupt. Zudem nutzen Verbote jener
Art bekanntlich meist sehr wenig: ein bestehendes islamfeindliches
Klima wird unnötig aufgeheizt, vorhandene islamophobe Vorurteile
werden bedient. Die sogenannten muslimischen Eltern, die tatsächlich
rückständig und frauendiskriminierend denken, werden oft trotzig und
daher noch fanatischer in ihrer Denkweise als zuvor. Wer sich hingegen
mit der Lehre des Islams eingehend beschäftigt, weiß, dass Frauen und
Mädchen keineswegs benachteiligt werden dürfen. Es ist diese
Unwissenheit und eine oftmals kulturell bedingte Gewohnheit, die
frauenverachtende Traditionen in muslimisch-geprägten Familien
legitimieren. Das Kopftuch wird im Islam tatsächlich als ein
identitätsstiftendes und entsexualisierendes Merkmal verstanden (Sure
33, Vers 59 des Korans). Den muslimischen Eltern, die Töchter und
Söhne gleichwertig behandeln und erziehen, wird vom Propheten Mohammed
in einer Überlieferung das Paradies versprochen (siehe in der
Hadithsammlung Tirmidhi).
Ich halte daher die Aussage von Frau Widmann-Mauz von der CDU für
sinnvoll, über den Dialog und Aufklärungsarbeit die Eltern jener
Mädchen zu erreichen, von denen aufgrund von frauenverachtenden
Vorstellungen und Erziehungsmethoden eine Gefahr für Kinder und
Jugendliche ausgehen könnte. Dabei sollte jedoch mitberücksichtigt
werden, dass es solche frauenverachtende Vorstellungen und
Erziehungsmethoden nicht nur in vermeintlich muslimisch-geprägten
Elternhäusern gibt: viele Mädchen lernen von klein auf von ihren
Eltern, dass sie über ihr Äußeres definiert werden (müssen). Große
Zweige der Spielzeugindustrie, viele Zeichentrickserien und
Zeitschriften für Mädchen verwenden sexistische Klischees und
Schönheitsvorstellungen. Hier ist ebenfalls eine gezielte
Aufklärungsarbeit nötig. Denn beschränkt man sich nur auf das
muslimische Leben, kann der Verdacht einer religionsfeindlichen oder
gar rassistischen Motivation aufkommen.