Das Kopftuch sei heutzutage obsolet und nur historisch bedingt im Koran erwähnt, heißt es. Ich behaupte, dass das „Prinzip Kopftuch“ gerade heutzutage eine wichtige Rolle spielt und womöglich eine weitaus wesentlichere Funktion hat, als zur Zeit der Offenbarung des Koran. Ich behaupte, dass es eine Vielzahl an rationalen Gründen dafür gibt, das Kopftuch und die dahinter stehende Philosophie im 21. Jahrhundert mitzutragen. Der Grund für das Tragen eines Kopftuches wird immer eine Herzensentscheidung bleiben, die auf der Liebe zu Gott basiert. Aber Liebe beißt sich nicht mit Vernunft und Glaube steht nicht im Widerspruch zur Ratio und einem aufgeklärten Denken. Im Gegenteil. Mir geht es darum, aufzuzeigen, warum die muslimische Haltung des „Kopftuches“, die für Männer und Frauen gleichermaßen gilt, moderner ist denn je. Freiheit und Emanzipation können da verborgen sein, wo der erste Blick nicht hinlangt. Es mag Liebe auf den zweiten Blick werden.
Nach jahrelangem Kopftuchbashing dürfte es ziemlich schwierig sein, diesem Kleidungsstück etwas Positives abzugewinnen. Denn kopftuchtragende Frauen gelten als unterdrückt und fremdbestimmt. Die Islamkritikerin Seyran Ates erklärt: „Ich finde es besorgniserregend, wenn immer mehr Mädchen das Kopftuch anlegen. Angeblich freiwillig. So einfach ist das aber nicht. Werden diese Mädchen dazu angehalten, einen freien Willen zu entwickeln? Oder wird ihnen gesagt, was sie wollen sollen?“ Kritisiert wird dabei, dass das Kopftuch Frauen auf ihr Geschlecht und ihre Sexualität beschränke.
Die eklatante Schwachstelle solcher Argumente besteht darin, dass unsere gesamte Gesellschaft durchzogen ist von Postulaten, die die Frau zu einem sexualisierten Wesen degradieren. Es ist eine vom Kapitalismus und Patriarchat befeuerte Vermarktung von Frauenkörpern, die permanente sexuelle Verfügbarkeit suggeriert. Und diese Form der Sozialisierung fängt schon früh an. Mädchen lernen von klein auf, sich über äußerliche Optimierung Aufmerksamkeit zu verschaffen. Sie lernen, dass das Ziel einer Frau sein soll, äußerlich zu gefallen, schön wie eine Prinzessin und Barbie zu sein. Es gibt klare Konventionen hinsichtlich des Spielzeugs sowie der Farbe, der Symbole und Form der Kleidung für Mädchen. Mädchen werden durch die Werbeindustrie, die Millionen von Dollar in die Vermarktung der pinkfarbenen Topmodel-Prinzessinnen-Glitzer-Welt steckt, und durch ihre Sozialisation darin bestärkt, einem weiblichen Schönheitsideal zu entsprechen und gefallen zu wollen. Eine ganze Generation junger Frauen und Mädchen hat nicht zuletzt dank frauenverachtender Sendeformate wie „Germany´s next Topmodel“ den männlichen Blick internalisiert. Die oberste Maxime lautet: Gefallen wollen.
Dabei habe ich keine Schwierigkeiten, die Tatsache zu akzeptieren, dass muslimische Mädchen von einer islamischen Erziehung beeinflusst sind. Schwierig wird es, wenn diese einseitig problematisiert wird und verkannt wird, dass die Sozialisierungseffekte der massenmedial verbreiteten Mehrheitskultur viel dominanter sind. Wir sollten uns überlegen, warum die popkulturellen Vorbilder für das Verweigern einer sexuellen Verfügbarkeit kaum existieren. Eine Frau, die das Kopftuch trägt, widersetzt sich möglicherweise allen kapitalistischen Interessen und torpediert die Bemühungen der Werbeindustrie, die sie mit einem Schlag ins Gesicht quittiert. Vielleicht ist das der Grund, warum sich kaum jemand noch über die Enthüllung der Frau empört, bei der Verhüllung der Frau jedoch die Emotionen kochen.
Es verwundert schon, dass auf die offensichtliche Doppelmoral nicht hingewiesen wird. Schon die kleinsten Mädchen werden mit aller Macht gesellschaftlicher Normen zu einer Identifikation mit ihrem Geschlecht erzogen. Der wesentliche Unterschied hinsichtlich dieser Identifikation ist, dass eine junge Frau, die ein Kopftuch trägt, dazu angehalten wird, sich nicht über ihre äußerliche Attraktivität zu definieren. Ihre Persönlichkeit, humane Werte und ihr Charakter stehen im Vordergrund.
Neclak Keleks Forderung, muslimischen Mädchen ihre Kindheit zu lassen muss diese Realität entgegen gehalten werden. Mädchen in Deutschland sind weitaus weniger davon bedroht, von fundamentalistischen Eltern dazu genötigt zu werden, ein Kopftuch zu tragen, als von der zunehmenden Sexualisierung der Kinderzimmer, die Kindern und Jugendlichen tatsächlich immer häufiger eine unbeschwerte Kindheit nimmt.
Dass die Konsumenten und Nutznießer der physischen Attraktivität einer zur Schau gestellten, suggerierten Verfügbarkeit von Frauenkörpern in erster Linie Männer sind, liegt auf der Hand. Eine Frau, die ihren Körper nicht öffentlich sichtbar macht, die ihren Körper zum Privateigentum und zur nicht verfügbaren Intimsphäre erklärt, entzieht sich selbstbestimmt dem männlichen Blick. Und bedient damit ganz sicher keine männlichen Interessen.
Es ist eine Massenkultur, die sämtliche Bemühungen um mehr Geschlechtergerechtigkeit torpediert und nicht das Kopftuch, das für einen respektvollen Umgang der Geschlechter steht.
Eine verschleierte Frau, die gerade in einer Kultur, in der das durch Medien und Werbung omnipräsent gewordene Bild der Frau das eines zur Perfektion retuschierten Objektes geworden ist, dem viele Frauen unbewusst folgen, macht deutlich: „Nein, ich mach nicht mit.“ Es bedarf innerer Überzeugung und einer starken Persönlichkeit, sonst ist eine solch klare Haltung gegen den Mainstream kaum möglich. Aber wie soll jemand verstehen, woher diese Stärke kommt, woher die Ablehnung kommt, sich über Äußeres Anerkennung zu verschaffen, wenn Gott keine Prämisse mehr ist und man dem materiellem Denken verhaftet ist? Das ist der Grund, warum sogenannte Islamkritiker immer noch die Endlosschleife von der Unterdrückung der Frau durch das Kopftuch abspielen. Sie sind blind dafür, dass das Kopftuch frei macht von jeglicher Form der Abhängigkeit, die sich etwa über das Streben nach Gefallen wollen ergibt. Eine Freiheit jenseits zwanghafter Diesseitigkeiten. Wer innen Wahrheit erkennt, wird nicht außen nach einer Form der Selbstbestätigung suchen.