Das missverstandene Stück Tuch

Das Kopftuch – mit Sicherheit eines der meist diskutierten, aber auch missverstandenen Kleidungsstücke überhaupt. Hinzu kommt die nie endende Kopftuchdebatte, sei es nun in Frankreich, Österreich oder hierzulande. Beispielsweise durfte eine junge Frau aus Bergheim ihre Stimme zur Bundestagswahl zunächst nicht abgeben, da sie ein Kopftuch trug. Des Weiteren zog der Europarat, nach heftiger Kritik seitens der Rechtspopulisten, die Kampagne gegen die Diskriminierung von Kopftuchträgerinnen zurück. 

Sieht man nun eine kopftuchtragende Frau, denkt man nicht selten an Unterdrückung, Rechtlosigkeit und Bevormundung. Stellt sich nun die Frage, ob diese Gleichsetzungen auf unserer subjektiven Wahrnehmung oder der medialen Darstellung einer Muslima zurückzuführen sind? 

Ich, als kopftuchtragende Muslima, stelle mir oft die Frage, wie so eine starke Aversion gegenüber dem Schleier entstehen konnte, wobei dies in Deutschland gar nicht so fremd ist, wie z. B. die Verhüllung bei den Nonnen oder die Statuen oder Bilder der Heiligen Maria, die meist mit einer Verschleierung dargestellt wird. Ist die Verschleierung per se vielleicht doch nicht das Problem? Ist es eventuell nur eine Scheindebatte, die geführt wird, um bereits marginalisierte Gruppen noch weiter in den Hintergrund zu drängen? Was auch immer die Antwort hierauf sei, es gilt, das pervertierte Bild des Kopftuchs zu korrigieren, die unilaterale Herangehensweise aufzugeben und den eigenen Blickwinkel eventuell zu ändern. 

Es handelt sich hierbei um ein von mehr als 700 Geboten des Heiligen Qur`ans. Es heißt im Heiligen Qur`an:

„[…] Das ist besser, damit sie erkannt und nicht belästigt werden. Und Allah ist allverzeihend, barmherzig.“ (33:60) 

Es wird ersichtlich, dass das Kopftuch ein identitätsstiftendes Merkmal ist und die Trägerin eine gewisse Keuschheit demonstriert. In der heutigen Gesellschaft wird die Freiheit oft mit der Freizügigkeit gleichgesetzt, welches letztlich den Anschein erweckt, dass sich die Freiheit einer Frau umgekehrt proportional zu der Anzahl ihrer Kleidungsstücke verhält. Der Schleier ist ein fester Bestandteil des islamischen Moralsystems und schützt daher die Reinheit der Trägerin und die des (un)gewollten Betrachters. Außerdem wurden die Männer zuerst diesbezüglich angesprochen. Es heißt im Heiligen Qur´an:

„Sprich zu den gläubigen Männern, dass sie ihre Blicke zu Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren sollen […]” (24:31).

Es ist somit einer Art Vorsichtsmaßnahme, genauso wie wir beispielsweise eine Autoversicherung abschließen oder uns im Auto anschnallen, um das etwaige Risiko eines schwerwiegenden Unfalls zu senken. Keiner würde jemals die Vorteile hiervon bestreiten. Außerdem will der Islam eine reizfreie und respektvolle Gesellschaft und Begegnung in der Öffentlichkeit bewirken. Reize und Schönheit sind für die Partnerschaft vorgesehen. Hinzu kommt, dass unsere Massenkultur stark sexualisiert ist – Frauenkörper werden von Werbeagenturen als Vermarktungsstrategie genutzt und kleinen Mädchen wird schon früh signalisiert, dass sie sexuell attraktiv sein müssen, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. 

All dies führt vermehrt zu Depressionen, psychische Erkrankungen und nicht selten zu Suizidfällen. Das Wall Street Journal enthüllte beispielsweise, dass jedes dritte Mädchen durch Instagram ein schlechteres Körperbild von sich habe und dass zwischen 6 und 13% der Jugendlichen ihre Suizidgedanken auf Instagram zurückführen (Wall Street Journal, September 2021).

„Männer sehen Frauen in sexualisierter Darstellung kaum als Personen mit eigenen Wünschen und Absichten“, resümiert die Sozialpsychologin Susan Fiske (2009). In ihrer Studie beobachtete sie mittels MRT die Gehirnareale der Männer beim Anblick leicht bekleideter Frauen. Es regte die Aktivität in denjenigen Hirnregionen aus, die für manipulierbare Objekte und für den Werkzeuggebrauch zuständig sind. Regionen für gegenseitiges Einfühlungsvermögen und Verständnis blieben hingegen wenig genutzt. 

Der Islam verneint all dies und befreit die Frau von den Ketten des Gesellschaftsdrucks und hebt ihre inneren Werte hervor. Das Kopftuch bedeutet für mich eine Art Befreiung von dieser gesellschaftlichen Misere, da man dadurch nicht auf Äußerlichkeiten reduziert wird und der Emanzipation und körperlichen Selbstbestimmung Ausdruck verleihen kann. Die Persönlichkeit und Fertigkeiten einer Frau stehen somit im Vordergrund und nicht ihr Aussehen. 

Hierzu muss man jedoch sagen, dass es sicher vereinzelt Fälle gibt, bei denen sich Fanatiker anmaßen, die Frauen forciert zu verschleiern. Dies jedoch sind unislamische Praktiken und müssen abgelehnt werden. All dem jedoch mit Zwangsentschleierung entgegenzuwirken, ist sicherlich gleichermaßen verwerflich. Seine Heiligkeit, Kalif und Oberhaupt der weltweiten Ahmadiyya Muslim Jamaat, Hadhrat Mirza Masroor Ahmad (Möge Allah sein Helfer sein) sprach hierzu:

„Es wird oft angenommen, dass das islamische Konzept der Verhüllung Frauen ihrer Rechte berauben würde. Jedoch ist dies nicht der Fall. Die Wahrheit ist, dass das Hijab eigentlich die wahre Würde, Unabhängigkeit und Freiheit der Frauen etabliert. Das islamische Kopftuch schenkt den Frauen nicht nur physische Sicherheit sondern spielt auch eine Schlüsselrolle dabei, ihnen spirituelle Sicherheit und Reinheit des Herzens zu gewähren.”

Zum Schluss hin ein kleines jedoch potentes Beispiel aus dem Leben des heiligen Propheten Mohammed (Frieden und Segen Allahs seien auf ihm) als praktische Veranschaulichung der oben genannten Verse. Als der heilige Prophet (Friede und Segen Allahs seien auf ihm) einst mit einem seiner Gefährten draußen war, kam ihm eine Frau entgegen, um eine persönliche Angelegenheit zu besprechen. Als er jedoch sah, dass der Gefährte die Frau aufgrund ihrer Schönheit anstarrte, wandte er das Gesicht des Mannes in die andere Richtung (Bukhari). Er wies nicht die Frau zurecht, noch verurteilte er sie. Dies zeigt, dass neben dem Verschleierungsgebot die Verbesserung des Männerverhaltens angestrebt werden sollte, um sexuellen Belästigungen entgegenzuwirken. Der Islam möchte also, dass der Fokus nicht auf destruktives und unmoralisches Verhalten, sondern auf eine lebendige Beziehung zu dem Schöpfer gelegt wird, wodurch man die wahre Zufriedenheit im Leben erlangen kann.