Barmherzigkeit für alle Welten

 

 

Brennende Flaggen, eine wütende Masse, die Parolen skandierend vor amerikanischen Einrichtungen pöbelt und immer wieder beleidigte Muslime – diese Bilder aktivieren mittlerweile automatisch das Schema eines gewaltbereiten Islam, der keine Toleranz kennt. Sie gehen wieder um die Welt und suggerieren, die gesamte muslimische Welt sei in Aufruhr wegen eines Schmähfilms über den Propheten. Den wenigsten dürfte bewusst sein, dass es sich trotz der Übermacht an Bildern nur um einen kleinen Ausschnitt einer komplexen Realität handelt. Die Bilder zeigen eine Minderheit von aufgestachelten Radikalen, nicht aber die Mehrheit der vernünftigen Muslime, die Gewalt ablehnt. Besonders grotesk ist, dass der Mob, der nun meint, die Ehre des Propheten im Namen des Islam verteidigen zu müssen, sich völlig entgegen der Lehre dieses Propheten verhält. Der Prophet Muhammad SAW wurde – so wie alle Propheten – sein Leben lang verspottet, beleidigt und verfolgt. Es gibt unzählige Koranverse und Überlieferungen, die die Gläubigen immer wieder zur Geduld und Besonnenheit ermahnen, so heißt es etwa im Koran:

اِدۡفَعۡ بِالَّتِیۡ ہِیَ اَحۡسَنُ فَاِذَا الَّذِیۡ بَیۡنَکَ وَ بَیۡنَہٗ عَدَاوَۃٌ کَاَنَّہٗ وَلِیٌّ حَمِیۡمٌ

„Wehre (das Böse) mit dem ab, was das Beste ist. Und siehe, wenn Feindschaft zwischen dir und einem anderen war, so wird der wie ein warmherziger Freund werden. (Der Heilige Koran, Sura Al Ha-Mim Sadschdah, Vers 35).

Doch wie kann es sein, dass es Muslime sind, die auf die Beleidigung ihrer Religion empfindlich reagieren – und nicht etwa Christen? Sicherlich hat Religion in der sogenannten islamischen Welt einen anderen Stellenwert als im säkularen Europa. Viele Menschen lieben den Propheten des Islam mehr als ihre eigenen Eltern und Kinder. Er SAW gilt als „Barmherzigkeit für alle Welten“, wie es im Koran heißt, als Mensch mit den höchsten moralischen Eigenschaften. Muslime demonstrieren auch, wenn Propheten wie Abraham, Noah, Moses oder Jesus, die für sie ebenfalls heilig sind, verunglimpft werden. Der Koran ermahnt Muslime, das Heilige anderer zu achten, es wird jedoch an keiner Stelle eine weltliche Strafe für Blasphemie erwähnt. Dennoch reagiert ein extremistischer Mob mit Gewalt. Die Ursache dafür ist nicht der Islam, sondern komplexe soziale und politische Rahmenbedingungen, die dazu führen, dass Scharfmacher jede Gelegenheit ausschlachten, um sich zu behaupten und von außen- oder innenpolitischen Problemen abzulenken. Fundamentalisten wie Salafisten oder die Hisbollah haben in den letzten Monaten an Einfluss verloren. Das Schmähvideo bietet einen willkommenen Anlass, sich in den Mittelpunkt zu rücken. Ebenso hatte das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“, das jüngst auflagenstark neue Muhammad-Karikaturen druckte, in den vergangenen Jahren an Ansehen und Auflage eingebüßt, finanzielle Schwierigkeiten waren die Folge. Scharfmacher auf beiden Seiten bilden somit eine unheilige Allianz, indem sie sich gegenseitig den Ball zu werfen. Sie brauchen einander im Kampf um Einfluss, Aufmerksamkeit und nicht zuletzt aus marktwirtschaftlichem Kalkül. Und das ist die große Gemeinsamkeit der Unfriedenstifter auf beiden Seiten: Während die radikalen Islamisten vorgeben, den Islam zu verteidigen, treten sie fundamental-islamische Werte mit den Füßen und instrumentalisieren ihre Religion, um eigene egoistische Interessen zu bedienen. Während die radikalen Islamhetzer vorgeben, die Meinungsfreiheit zu verteidigen, nehmen sie in Kauf, das Heiligste anderer Menschen zu beleidigen, um mit diesem billigen Marketingtrick Auflagen zu steigern und konterkarieren damit die ursprüngliche Idee der Meinungsfreiheit. Denn welchen Zweck sollten der Abdruck provokanter Karikaturen und die Verbreitung geschmackloser Filme sonst haben? Ginge es um eine fundierte Kritik, wäre eine inhaltliche, konstruktive Auseinandersetzung zielführender als zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit sind nicht in einem sinnfreien Raum entstanden. Die ursprüngliche Idee hinter der Stärkung des Individuums im Zuge der Aufklärung war die humanistische Idee, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und Religion das Recht auf ein selbstbestimmtes, freies Leben haben müssen. Es ging darum, die Würde des Menschen und sein Recht auf ein integres Leben zu schützen. Wenn genau diese Meinungsfreiheit dazu missbraucht wird, die Würde anderer Menschen zu verletzen und den öffentlichen Frieden zu gefährden, führt dies die ursprüngliche Idee ad absurdum. Wir dürfen nicht vergessen, dass Muslime ihren Propheten derart lieben, dass seine Schmähung einer persönlichen Beleidigung gleichkommt.

Natürlich rechtfertigt dies nicht die gewaltsame Reaktion fanatischer Islamisten. Aber es ist falsch, wenn wir den Fanatikern auf den Leim gehen, die sich zu Helden in einem vorgeblichen Kulturkampf stilisieren, den sie selbst inszeniert haben. Es geht nicht um einen Kampf der Kulturen. Die Trennlinie verläuft schon längst nicht mehr zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen, sondern zwischen vernünftigen Humanisten und totalitär denkenden Radikalen. Es gibt auch die antireligiösen Fanatiker, die Säkularfundamentlisten, die vergessen haben, dass es eine wichtige Erkenntnis der Aufklärung ist, seine eigene begrenzte Sicht der Dinge in Frage zu stellen und zu relativieren. Der paternalistisch herablassende Ton, der nun wieder einmal die Debatte prägt, spielt den dichotom denkenden Spaltern in die Hände. Es gehörte schon immer zum anti-muslimischen Ressentiment, den Islam als irrational und unaufgeklärt zu stigmatisieren, um sich vor dieser Negativfolie seiner eigenen Überlegenheit zu versichern. Wenn wir auf das Feindbild, das die Islamisten vom Westen pflegen, mit dem Feindbild Islam antworten, waren die radikalen Agitatoren auf beiden Seiten erfolgreich. Im Heiligen Koran heißt es dazu:

یٰۤاَیُّہَا الَّذِیۡنَ اٰمَنُوۡا لَا یَسۡخَرۡ قَوۡمٌ مِّنۡ قَوۡمٍ عَسٰۤی اَنۡ یَّکُوۡنُوۡا خَیۡرًا مِّنۡہُمۡ

„O die ihr glaubt! Lasset nicht ein Volk über das andere spotten, vielleicht sind diese besser als jene […]“ (Der Heilige Koran, Sura Al-Hudschurât, Vers 12).

Und es heißt auch – und das wird sowohl von Islamhetzern als auch von Islamisten häufig vergessen:

وَ لَوۡ شَآءَ رَبُّکَ لَاٰمَنَ مَنۡ فِی الۡاَرۡضِ کُلُّہُمۡ جَمِیۡعًا ؕ اَفَاَنۡتَ تُکۡرِہُ النَّاسَ حَتّٰی یَکُوۡنُوۡا مُؤۡمِنِیۡنَ

„Und hätte dein Herr Seinen Willen erzwungen, wahrlich, alle, die auf der Erde sind, würden geglaubt haben insgesamt. Willst du also die Menschen dazu zwingen, dass sie Gläubige werden?“ (Der Heilig Koran, Sura Yunus, Vers 100).

Der Friede wird nicht durch einen intoleranten Islam gefährdet, sondern durch den Egoismus von Menschen, die meinen, Gott spielen zu müssen, weil ihnen die demütige Einsicht über die menschliche Begrenztheit abhanden gekommen ist.

Veröffentlicht in: Islam