Armut und die Kulleraugen

Kontaktverbot, Ausgangsbeschränkung und Homeoffice – es bleibt viel Zeit für Aktivitäten, die sonst vernachlässigt werden. Ich beginne zunächst mit einer kurzen To-Do-Liste, damit die Aufgaben auch ja priorisiert erledigt werden können. Wer liebt es denn nicht? Ausmisten alter Briefe, Dokumente und Notizen. Herrlich! Was einem so alles in die Hände fällt – genauso wie diese Notizen, die ich heute gerne mit euch teilen möchte. Datiert sind diese mit Januar, 2016. Ich verfasste diese Zeilen, nach einer emotionalen Reise – eine Reise, auf der ich eine unvergessliche Begegnung mit einem Menschen hatte, die mein Leben veränderte und mich dazu brachte, die Worte meines Herzens festzuhalten, um diese später mit anderen teilen zu können und heute mit euch. 

Ich nehme euch mit, auf eine kurze Reise… 

Erinnerungen

Es ist der 14. Januar 2016, ich beobachte die Hektik in der Menschenmenge, alle möchten ihren Flug pünktlich erreichen und stelle fest, dass nicht nur meine Fluglinie nach München auf Grund von schlechten Wetterverhältnissen, deutlich Verspätung hat. Nach einer neun stündigen Wartezeit, sitze ich an meinem reservierten Platz atme tief aus. Meine Gedanken sind hin und her gerissen. Ich verlasse Pakistan, das Land meiner Wurzeln und lasse Erinnerungen und Geschehnisse zurück, welche eine tiefe Wirkung auf mein Menschsein hinterlassen haben. Ich lasse Revue passieren, gedanklich schweifen 2 1/2 Wochen davon, stehen bleibe ich heute noch… 

LAHORE, PAKISTAN. An dem kalten Dezembertag bin ich froh darüber, meinen Wintermantel eingepackt zu haben. Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, inmitten einer kalten Jahreszeit zur warmen Kleidung greifen zu können. Doch was ist mit Hassan (*Name wurde geändert)? Die Begegnung sitzt noch tief in mir – in meinem Herzen. Ich habe es heute noch vor Augen, wie er mit seinen kugelrunden, unschuldigen Augen, seinem verfilztem Haar welches er unter einer Mütze teilweise verborgen hält, schüchtern zu mir auf schaut. Seine Familie steht schon am Eingang des Lehmhauses und wartet gespannt auf mich. Als ich die große Tasche zum Vorschein bringe, die mit Malbüchern, Buntstiften, Kleidung, Spielsachen und Süßigkeiten gefüllt ist, erreiche ich es, Hassans Neugierde zu wecken. Verängstigt steht der 3 Jährige Hassan barfuß, noch an der Seite seines Vaters und nimmt allen Mut zusammen um die Tasche entgegen zu nehmen. Zaghaft läuft er in meine Richtung, jeder seiner kleinen Schritte, die den eiskalten Boden berühren, schmerzen in meinem Herzen. Zusammen packen wir die Tasche aus, welch ein Freude ich durch diese kleine Geste Hassan und seinen Eltern schenken konnte, werde ich nie vergessen! Ich setze mich zu Hassans Mutter, die am Boden versucht ein Feuer zu legen um das Abendessen vorzubereiten. Während sie mich durch die kleine Hütte führt, versuche ich die Kälte die mein Körper verspürt, nicht zum Vorschein zu bringen. Sie erzählt mir, wie ihr Alltag verläuft, wie sehr sie sich wünscht, dass der kleine Hassan später, eine Schule besucht aber auf Grund der finanziellen Verhältnisse, dieser Wunsch unmöglich erscheint. Wie das Leben verläuft, wenn die täglichen Sorgen über eine Mahlzeit den Menschen innerlich in Stücke zerreißt. Nein hier geht es nicht um die warme Mahlzeit, denn ein trockenes Fladenbrot würde meist auch schon den Bauch sättigen, erzählt sie mir. Jeden Morgen erwacht sie mit dem Gedanken: Ob es wohl heute eine Speise für uns geben wird? Mit dem Trost, dass Allah der Versorger der Menschen ist und seine treuen Diener nie im Stich lässt, beginnt sie den Tag, mit voller Hoffnung in ihren Schöpfer. 

Fragen über Fragen

Die Begegnung mit Hassan und seiner Familie hat vieles in mir bewegt. Nicht nur eine, sondern unzählige Fragen schwirren mir durch den Kopf: Was ist Armut? Welche gesellschaftlichen Umstände haben Armut herbeigeführt? Wer ist der Verursacher, dieser Form von schrecklicher Gewalt? Wie kann diese beseitigt werden? Inwiefern kann jedes Individuum dazu beitragen, diese zu beseitigen? Dinge, die für uns banal erscheinen, wie ein warmes Bett oder ein ständig voller Kühlschrank, sind schon viel zu weit gegriffen. Hassan, besitzt nicht einmal fließendes sauberes Wasser! Diese Familie, die ich kennenlernen durfte, ist nur eine der unzähligen Beispiele, deren Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden.

Jährlich enden etwa elf Millionen Tonnen Lebensmittel auf deutschen Müllhalden, davon stammen 61 % aus den Privathaushalten. Damit vernichten wir jährlich genießbare Speisen in Wert von bis zu 21,6 Milliarden Euro. Diese Summe muss erst einmal in unserer Überfluss- und Wegwerfgesellschaft, in welcher wir leben, verdaut werden, um sich über deren Ausmaße weitere Gedanken machen zu können. 

Der Monat Ramadan

Aktuell befinden sich weltweit viele Muslime, im Monat Ramadan. Die heilige Zeit, stellt nicht eine Phase des Hungerns dar, sondern ich als Muslima lerne mein Konsumverhalten umzulenken, zu steuern, zu überdenken. Unabhängig der Religionszugehörigkeit, sollte bedacht werden, dass am anderen Horizont der Erde, Menschen in elenden und unerträglichen Zuständen ihr Leben verbringen. Die Tage des Fastens, bewirken eine spirituelle Entwicklung in mir. Ich lerne zu schätzen und zu würdigen in dem ich versuche, von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang mich in die Situation eines Menschen zu begeben, dem nicht rund um die Uhr, ein voller Kühlschrank, ein Dach über den Kopf und eine warme Mahlzeit, zur Verfügung steht. 

Verliere nie das wesentliche Ziel aus den Augen

Der Fastenmonat unterstützt mich in der heutigen turbulenten Zeit, die moralischen, sozialen Werte des Miteinanders aufzubauen und zu fördern. Im Heiligen Qur`an fordert Allah an mehreren Stellen (8:4, 57:8, 13:23), die Gläubigen auf zu spenden, von dem was ihnen zur Verfügung steht

»Die da glauben an das Ungesehene und das Gebet verrichten und spenden von dem, was Wir ihnen gegeben haben« (2:4)

Spenden in Form von Naturalien, finanziellen Mitteln oder Gegenständen, das spielt keine Rolle. Das tatsächliche Ziel ist es doch, der Armut zu entfliehen – und das gemeinsam mit Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Khuraim bin Fatik (ra) erzählt, dass der Heilige Prophet (saw) sagte: 

»Wer immer irgendetwas in der Sache Allahs spendet, wird siebenhundertmal (mehrfach) belohnt.« (TIMIRDHI) 

Die Sorgen sollte nicht das eigene Fastenbrechen oder die Erledigungen und Vorbereitungen für das Fest nach dem Fastenbrechen (Id-ul-Fitr ) sein, sondern der Gedanke, dass es in einem Eck der Welt, nicht nur ein Hassan existiert, sondern viele, die am Morgen nicht wissen, ob es am Abend, eine Mahlzeit für das leere Bäuchlein geben wird. Lasst uns gemeinsam, eine Freude und ein unbezahlbares Lächeln einer anderen Familie, zum diesjährigen Fest zukommen und spendet von dem, was euch zur Verfügung steht.